




HELENA HASELSTEINER
Mondgesichter, Honigmilch und Mauerziegel
Am Himmel liegt das Mondgesicht wie eine Scheibe, rollt sich seinen Weg durch das Blau wie auf einer Kugelbahn. Wie auf einer Kugelbahn. In den Händen liegt Wärme, ummantelte Wärme aus Milch mit Honig und an der ziegelroten Mauer, drei Steine über dem Boden, da ist ein Ziegel locker, ein ziegelroter Ziegel, und wenn man ihn herauszieht, kommt dahinter eine Mulde zum Vorschein, nicht viel größer als eine Faust. Mondgesichter, Honigmilch und Mauerziegel- jeden Morgen um halb sechs, wenn der Himmel sich in blasses blau-rosa tüncht, vereinzelte Wolkenstreifen, die dort wie Boten der Nacht noch ihre Geschichten erzählen.
Mut hockt auf der Mauer jeden Morgen um halb sechs, der die Vögel sich in ihren Nestern wälzen hört, den dritten Stein von unten lockert, die Hand hineinführt und ein kleines Büchlein herauszieht, kaum größer als eine Faust, jeden Morgen um halb sechs. Dann blättert sich am Himmel die Morgenröte wie das Papier in seinen Händen und ein Stift kratzt darauf. Ein Stift kratzt darauf. Jeden Morgen um halb sechs auf der Ziegelmauer, ein Mondgesicht über dem Kopf und Honigmilch im Magen. Und im Buch, dort füllen sich die Seiten, Nachrichten über Krieg und Frieden, über Angst und Mut, Zeile für Zeile, wenn der Schwung der Linien in seiner Eile kleiner und kleiner wird. Indem sich der letzte Streifen Rot vom Himmel löst und beinahe erste Strahlen den Rand der Erde küssen, schwindet der Mut, er verkriecht sich in seiner Mulde, hinter dem dritten Stein von unten, und das Mondgesicht wird langsam blass und vergessene Honigmilch in der Tasse kalt.
Dann hüpft der Mut von der Mauer, Mut von der Mauer, der Mauer, sie schimmert ziegelrot im Licht.
Den Gehweg entlang streift ein kleiner Junge, die Haare wirr, die Beine müde, die Hände vom Schreiben fast wund. Vorne am Zaun lehnt er dann und er blickt in die Ferne, sieht einen blendenden Feuerball weiter und weiter aufsteigen und die Mauer, sie schimmert ziegelrot im Licht. Ziegelrot. Mut liegt wie eine Schale Wasser in den Händen. Sie wankt und manchmal schwappt er über den Rand. Dann glänzt er vom Boden herauf wie eine Pfütze und lacht, der Übermut. Hält man still, die Schale Wasser bleibt ruhig wie eine ungerührte Suppe am Tisch, sie würde dortbleiben. Sie würde dort bleiben bis. Von Unmut zermürbt.
Die Flagge trägt blau-gelb und aus dem Küchenfenster ist das Rohren des Fernsehers zu hören, wenn die Mutter ihre erschöpften Augen daran heftet und nicht mehr davon lassen kann. Dann steht der Junge an
dem Zaun, sieht die Mauer ziegelrot, hört das Rohren des Fernsehers und spürt ein letztes Aufbellen von Mut, jedes Mal, wenn er zu dem dritten Ziegel von unten blickt. Und er wartet in die Weite und erdenkt sich den Moment, in dem er schließlich zu dem Bruder aus der Ferne rennen wird, ihm von Mondgesichtern, Honigmilch und Mauerziegeln zu erzählen, er würde ihm das Büchlein in die Hand legen und sie würden ihn zumauern, den Ort, an dem es gelegen hat. Es wäre ein glücklicher Moment und er würde und würde von Mut durchtränkt sein.
"Von Unmut zermürbt", schreibt Helena in ihrer tollen Kurzgeschichte, die sich fast lyrisch in mein Herz hinein schmiegt!
Daniela



Helena Haselsteiner ist die Gewinnerin der Kategorie Literatur
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